Eine Anleitung zum Hinschauen und Erkennen von Motiven
von Carola Vahldiek (Ungekürzte Fassung)
Besondere Bilder zeichnen sich durch ihre technische Qualität aus, vor allem aber dadurch, dass die Neues zeigen. Auf den zweiten Blick verwundert diese
Aussage, da sich der Fotograf eigentlich damit beschäftigt, Vorhandenes abzubilden. Es kann also nicht wirklich ein neues Motiv sein, was ein besonderes Bild ausmacht. Es ist vor allem die Art,
wie es durch den Fotografen gesehen, betrachtet und festgehalten wird.
Von zwei Menschen mit Kamera, die denselben Ort besuchen, kommt manchmal der eine mit einer großen Auswahl verschiedenster interessanter Bilder zurück, während der andere enttäuscht
behauptet, es habe keine lohnenswerten Motive gegeben.
Einen guten Fotografen machen vor allem das "richtige Sehen" und die Fähigkeit, Motive zu erkennen, aus. In Zeitschriften und Büchern finden sich meist aber nur pauschale Hinweise hierzu. Während
technische und gestalterische Anleitung gegeben wird, so sucht man nach Hinweisen, das "richtige Sehen" zu lernen, vergebens. Kann man es überhaupt lernen? Kann man Anleitung hierfür geben?
Beim Fotografieren suche ich vor allem die Schönheiten, die Kompositionen, die Farben. Es sind nicht nur die spannenden Momente, die ich festhalte. Häufiger gestalte ich Stillleben mit der Kamera
und hoffe so, die Wunder der Natur auch für andere sichtbar zu machen. Im Laufe meiner fotografischen Tätigkeit haben sich mir dabei immer mehr Möglichkeiten eröffnet, Bilder zu sehen, wo andere
nichts sehen.
Die von mir am häufigsten praktizierte Art, Motive zu suchen, sind Wanderungen oder Spaziergänge, auf denen ich mich von den Motiven überraschen lasse. Wenn ich mit der Kamera in der Natur bin,
stelle ich immer wieder fest, dass ich eigentlich acht Augen, vier Ohren und zwei Nasen bräuchte, um wirklich die ganze Vielfalt der Motive um mich herum wahrnehmen zu
können.
Nicht nur die Augen können den Fotografen zu seinen Bildern führen. In vielen Fällen führen mich meine Nase, indem sie etwa en Duft versteckter Blüten einfängt, oder meine Ohren, die mir durch
leises Rascheln, Summen, Zwitschern, durch Rufe oder andere Geräusche die Anwesenheit kleiner und auch größerer Tiere verraten. Viele Tiere entdeckt man vor allem durch die Geräusche, die sie
verursachen. Ihre Tarnung führt dazu, dass sie häufig übersehen werden. Das Bild 1 etwa ist entstanden, indem ich "meinen Ohren hinter herschaute".
Die wichtigsten Sinnesorgane des Fotografen auf der Suche nach Motiven sind natürlich die Augen. Wenig Erfolg wird indes der haben, der die Kamera schultert und stur geradeaus sieht. Oder die
Augen schließt. Selbstverständlich!
Merkwürdig ist, dass es bei der Frage, zu sehen, wo andere nichts sehen, keine Selbstverständlichkeiten gibt. Gerade das, was scheinbar offensichtlich nicht zum Erfolg führen kann, führt manchmal
zu den ungewöhnlichen Bildern.
Im Bild 2 sehen Sie Eis auf einem Bach. Ich nenne es jedoch "Troll mit Fledermausohren". Ist Ihnen das unbegreiflich und sehen Sie nur Eis? Betrachten Sie das Bild mit zusammengekniffenen Augen! Blinzeln führt dazu, dass Details und Farben weniger gut, die beherrschenden Strukturen dafür aber deutlicher wahrgenommen werden. Am Beispiel des Eises führt das Zusammenkneifen der Augen dazu, dass einem die Augen geöffnet werden! Aber auch in anderen Situationen ist dies ein wunderbares Mittel, die Komposition des Bildes, die harmonische Gestaltung des Motivs und dessen bestimmende Linienführungen zu erkennen. Schließen Sie Ihre Augen daher ab und zu bis auf einen kleinen Spalt!
An anderen Stellen wiederum führt genau das Gegenteil zum Motiv. Das Bild 3 sieht nur, wer die Augen weit öffnet und so auch die feinen Übergänge und Nuancen erkennt.
Beides hat also seine Berechtigung, und je häufiger man, an einem Ort stehend, beides im Vergleich ausprobiert, desto eher fallen besonders starke Strukturen und besonders feine Farbnuancen
später auch ohne diesen Vergleich auf.
Sollte etwa auch das sture Geradeausschauen meines Eingangsbeispieles ein Schlüssel zu Motiven sein? Viele Motive enthüllen sich nicht auf den ersten Blick, sondern erst auf den weiten oder dritten. Oft genug entdecke ich Motive, indem ich an einem Ort verweile und einen Teil meines Umfeldes für eine Weile in meinem Blick festhalte, ohne etwas Konkretes zu sehen. Ich lasse meine Augen etwa auf einem blühenden Busch oder einem kleinen Ausschnitt einer Wiese ruhen. Zunächst sehe ich nichts, und unvermittelt eröffnet sich mir ein Motiv. Es ist fast unmöglich, einen Ausschnitt der Natur zu betrachten, ohne dass unvermittelt Tiere ins Blickfeld geraten, die aufgrund ihrer geringen Größe oder auch aufgrund ihrer Tarnung vordem "unsichtbar" waren (Bild 4). Wer sich mit einem Makro in eine naturnahe Wiese setzt, wird nach einer Weile sehr viele Motive entdecken.
Ständiges Nach- Vorn- Schauen führt aber auch manchmal dazu, gute Motive zu übersehen. Wer auf Wanderungen Landschaften oder Landschaftselemente fotografiert, ist gut beraten, sich von Zeit zu Zeit umzuwenden und zurück zu schauen. Wie oft war ich von der völlig anderen Wirkung einer Landschaft, die ich gerade durchwanderte, überrascht, wenn ich mich einfach umdrehte!
Und nicht nur das gelegentliche Zurückschauen birgt Motive. Seien Sie - diesmal im übertragenen Sinne - vorausschauend, wenn Sie Tiere oder etwa besondere Lichtstimmungen fotografieren wollen. Bei Tieren setzt dies voraus, dass deren Verhaltensweisen bekannt sind und vom Fotografen erahnt werden können. Lassen Sie die Akteure nicht aus dem Sucher! Nichts ist ärgerlicher, als den entscheidenden Moment wie etwa im Bild 5 zu verpassen.
Seien Sie auch vorausschauend, wenn Sie Landschaften fotografieren wollen. Kommen Sie wieder, wenn die Beleuchtung wenig aussagekräftige Motive in Stillleben verwandelt (Bild 6).
"Warum in die Ferne schweifen, sieh, das Gute liegt so nah!" Das ist auch in der Fotografie häufig so. Manche Motive erschließen sich, wie ich oben bereits schrieb, dadurch, dass man Ausschnitte der Natur länger betrachtet, Details wahrnimmt und versteckte Motive realisiert. Gehen Sie noch näher heran! Schauen Sie sich das, was Sie entdecken, durch ein Makroobjektiv an, das einen Abbildungsmaßstab von 1:1 oder größer ermöglicht! Betrachten Sie von dem kleinen Motiv, das Sie entdeckt haben, wiederum nur einen Ausschnitt - und nicht nur den, der sich zunächst anzubieten scheint! Natürlich beeindrucken etwa Facettenaugen von Insekten, aber nicht weniger spannend sind die filigranen Flügel, die gezackten Füße, die bunten Körper. Natürlich ergibt eine Blüte in der Gesamtschau ein harmonisches Bild, aber betrachten Sie auch die noch kleineren Details! Sie finden eine ungeahnte Fülle von Motiven (Bild 7).
Dasselbe passiert bei einem Blick durch das Teleobjektiv. Das Teleobjektiv ist nicht nur dazu geeignet, Tiere näher "heranzuholen", die bei weiterer Annäherung die Flucht ergreifen würden. Immer wieder bin ich überrascht, wie viele Details der mich umgebenden Landschaft ich mit bloßem Auge übersehe. Sie sind einfach zu weit entfernt, als dass das Auge ihre Strukturen und Farbigkeiten klar auflösen und ihre Eignung als Motiv wahrnehmen könnte. Die geringe Schärfentiefe des Teleobjektivs unterstützt die Reduzierung des Bildes auf die wesentlichen Elemente. Sie löste Details aus ihrem Umfeld und ermöglicht stimmungsvolle Aufnahmen (Bilder 8 und 9).
Was tun Sie, wenn Sie ein bewegtes Motiv vorfinden? Der Automatismus, bei bewegten Tieren eine möglichst kurze, bei Wasser aber eine lange Belichtungszeit zu wählen, um das Fließen zu betonen, schränkt die Vielfältigkeit der möglichen Bilder grundlos ein. Meist wirken Motive völlig unterschiedlich, wenn die eine oder andere Variante oder das Mittelmaß gewählt werden, und in den überwiegenden Fällen haben alle Möglichkeiten ihren eigenen Reiz. Wasser hat zum Beispiel bei allen Belichtungszeiten wundervolle Bildeigenschaften. Kurze Zeiten lassen die Linien der Wellen zu fast meditativen Motiven werden (Bild 10), lange Verschlusszeiten verwandeln es in fließende Farben (Bild 11), eine mittlere Verschlusszeit ermöglicht, gleichzeitig Bewegungsunschärfe einerseits und glänzende Wasserperlen andererseits ins Bild zu setzen, etwa bei einem badenden Vogel.
Auch wenn Motive eigentlich recht farblos sind, so bringt Bewegungsunschärfe dennoch oft einen Reiz hinein. Andererseits machen kurze Verschlusszeiten Dinge sichtbar, die das menschliche Auge aufgrund ihrer Schnelligkeit nicht als klares Bild abzubilden vermag (Bild 12).
Stellen Sie sich vor, Sie wandern an einem Bach, der sich mit üppig bewachsenen Ufern durch ein enges Tal schlängelt. Sie suchen eine besonders schöne Stelle und fotografieren den Bachlauf entlang? Natürlich, aber versuchen Sie einmal herauszufinden, wo die eigentlichen Besonderheiten des Baches liegen! Bild 13 entstand an einem solchen Bach, der an einigen Stellen einen hellgelbsandigen Untergrund hatte. Auf seiner Oberfläche spiegelten sich sonnenbeschienene Blätter. Die Farben waren es, die faszinierten! So löste ich den Bach fotografisch vollständig aus seiner Beziehungen und fotografierte lediglich die Farben. Entstanden ist ein etwas rätselhaftes, stimmungsvolles Bild.
Solche Motive erkennt nur, wer sich bemüht, gelöst von der Gesamtheit Details wahrzunehmen und Linienführungen oder Farbigkeiten kreativ von ihren Beziehungen zum Ganzen trennt.
Doch auch hier kann genauso das Gegenteil für interessante Aufnahmen sorgen: die Darstellung der Beziehung des Hauptmotivs zu seiner Umgebung. Selbst dann, wenn zunächst gar keine Beziehung
zwischen zwei Objekten besteht, lassen sich durch "künstliche" gemeinsame Kompositionen interessante Motive gestalten. Dabei ist es nicht nötig, in das Gesehene einzugreifen. Allein durch den
kreativen Einsatz der Kamera und ihrer Möglichkeiten können Objekte verbunden werden, die ursprünglich nicht zusammen gesehen werden (Bild 4).
Insbesondere, wenn die Beziehung des fotografierten Hauptmotivs zu seiner Umgebung wichtig erscheint, wähle ich ebenso Aufnahmen, die das Ganze betrachten und die Beziehungen darstellen, wie im
Bild 1.
Insbesondere bei der Fotografie von Wasser, aber auch bei anderen Gelegenheiten bleiben die Augen gern auf der nächstgelegenen Fläche ruhen, ohne "hinter die Kulissen" zu schauen. Gerade die Spiegelungen auf einer Wasseroberfläche machen häufig den Reiz eines Bildes aus (Bild 10). Doch entgehen dem Fotografen Motive, wenn er sich nicht bewusst bemüht, seinen Blick auch für die Tiefe zu schärfen (Bild 1). Achten Sie auf beide Alternativen, nur so schöpfen Sie den ganzen Motivreichtum aus.
Als Fotograf ist man natürlich immer auf der Suche nach einzigartigen Motiven. Manchmal erweisen sich gerade Dopplungen oder größere Vervielfältigungen als besonders reizvoll. Insbesondere wenn sich die Pflanzen oder Tiere sehr ähneln und eine gleiche oder gespiegelte Haltung bzw. Wuchsform zeigen, ergeben sich gute Motive (Bild 14). Dagegen werden Motive, die in der Regel in "Häufungen" auftreten, gerade durch die Vereinzelung zu etwas Besonderem.
Lassen Sie Ihre Augen auch in ungewöhnliche Richtungen schweifen. Schauen Sie, was sich über Ihnen befindet, und schauen Sie bewusst auf den Boden. Die Blickrichtung auf den Boden wird zwar relativ genommen, weil der Weg übersehen werden muss. Er beschränkt sich jedoch meist auf die Teile des Bodens, über die der Fotograf seine nächsten Schritte tun will. Weichen Sie - mit den Augen - vom Weg ab. Dort finden sich häufig Motive, die "im Vorbeigehen" aufgrund ihrer Unscheinbarkeit übersehen werden (Bild 15). Auch beim Blick nach oben finden sich nicht nur häufig übersehene, sondern eben auch Bilder, die ungewöhnlich sind, weil sie selten wahrgenommen werden.
Der Tipp, die Höhe des Standpunktes zu variieren, scheint auf den ersten Blick nichts Neues zu sein. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, Tiere möglichst in deren Augenhöhe aufzunehmen, weil
so ein direkterer Eindruck von dem Tier entsteht. In vielen Fällen muss man hierfür auf Bäume und Leitern steigen, auf die Knie gehen oder sich noch weiter "herablassen". Aber welcher Fotograf
lässt sich dazu herab, seine Umgebung auf Knien zu erkunden, bevor er ein Motiv entdeckt hat? "Versuch macht kluch." Den Hahnenfuß neben dem Grashüpfer (Bild 4) hätte ich nicht entdeckt, wenn ich
nicht auf gut Glück einmal meine Augenhöhe verändert hätte.
Ähnlich ist es mit höheren Standpunkten, doch im Gegensatz zur niedrigeren Augenhöhe ist ein solcher viel schwerer zu erreichen - und da natürlich nicht immer sofort ein Motiv auftaucht, nur weil
man die Perspektive gewechselt hat, mache ich mir nur selten die Mühe. Doch ist es immer wieder erstaunlich, welchen Anblick die Dinge von oben betrachtet bieten (Bild 16).
Die Perspektive kann man aber nicht allein dadurch wechseln, dass man einen höheren oder niedrigeren Standpunkt wählt. Die Perspektive kann auch verändern, wer Objekte, die in der Regel in einer
bestimmten Ansicht betrachtet werden, aus anderen Ansichten heraus darstellt, etwa eine Pilzreihe aus der Froschperspektive (Bild 14). Solche Bilder werden dadurch spannend, dass sie die
Wirklichkeit anders sehen lassen, als wir es gewohnt sind.
Schauen Sie auch von allen Seiten auf ein Motiv. Die Dinge sind meist vielseitiger als wir ahnen.
Auch die Veränderung des Hintergrundes kann einem Bild eine völlig andere Wirkung geben. Rücken Sie daher die möglichen Hintergründe einmal in den Vordergrund Ihrer Betrachtungsweise, wie ich es im Bild 17 getan habe. Das eigentliche Motiv wäre hier viel weniger spannend, als es durch die bewusste Wahl des Hintergrundes im tatsächlichen Bild geworden ist. Es gilt, sich bietende Hintergründe zu erkennen und auszunutzen oder gegebenenfalls auch abzuwarten, bis sich ein spannender Hintergrund bietet, eine dekorative Wolke in den Bildbereich gezogen ist oder die Sonne so weit gesunken ist, dass sie in das Bild einbezogen werden kann. Manchmal ergeben sich sogar erst dadurch Bilder, dass ein schöner oder spannender Hintergrund mit einem Vordergrund "aufgefüllt" wird, der allein niemals zum Betätigen des Auslösers animiert hätte. Suchen Sie also nicht stets zuerst einen Vordergrund, um dann den Hintergrund zu gestalten!
Versuchen Sie auch die andere Vorgehensweise und schauen Sie sich zunächst nach Hintergründen um! Das kann so weit gehen, dass das, was eigentlich als Hauptmotiv gewählt wurde, durch die Veränderung der Schärfeebene in den Hintergrund gerückt wird, wie ich es im Bild 18 getan habe.
Stets bin ich auf der Suche nach kleinen und großen Kontrasten: in den Bildinhalten ebenso wie in den Helligkeiten. Wirken hinsichtlich der Bildinhalte vor allem die deutlichen Kontraste, so hat hinsichtlich der Helligkeitsunterschiede eines Bildes beides seinen Reiz. Das sanfte Licht der Morgen- und Abendstunden ist wegen der geringen Kontraste dasjenige, bei dem die meisten Fotografen am liebsten arbeiten. Die harten Kontraste, die helles Sonnenlicht hervorruft, werden bei direkter Betrachtung vom menschlichen Auge ausgeglichen, Fotografien bei solchem Licht werden aber häufig mit Kontrasten überfrachtet, da das Filmmaterial diese nicht wie das Auge ausgleicht. Es kann jedoch im Gegenteil auch sein, dass gerade starke Helligkeitsunterschiede die Bildwirkung ausmachen, wie es im Bild des Felsentors Dyrholaey ist, das erst durch die starken Kontraste seine ganz besondere Wirkung erhält (Bild 19). Gegenlicht kann besonders dann, wenn es hart und kräftig ist, sehr starke Wirkung entfalten. Suchen Sie also nicht stets nur das weiche Licht!
Über Lichteinfall und besondere Lichtstimmungen wird häufig geschrieben. Neben der Wahl eines Motivs ist das Licht, in dem etwas fotografiert wird, das wichtigste Thema der Bildgestaltung. Aber nicht nur Frontallicht, Gegenlicht, Streiflicht, harte oder weiche Kontraste sind Themen, die man als Fotograf beachten sollte. Manchmal kann das Licht selbst zum eigentlichen Motiv des Bildes werden, während die gezeigten Gegenstände nur Statistenrollen übernehmen. Das geht so weit, dass Fotos ausschließlich mit Licht und Farbe auskommen, ohne etwas zu brauchen, an dem das Auge des Betrachters sich festhalten kann, wie im Bild 20. Es lohnt sich, die Augen auch für solche Momente zu öffnen.
Zum Thema Farben ist noch weiteres zu bemerken. In den meisten Fällen ist die Natur weder besonders bunt noch besonders "eintönig" (monochrom). Die Ausnahmen von dieser Regel eignen sich besonders gut für starke Bilder, wie etwa ein knallig bunter Papagei oder abstufungsreiche Blaunuancen im Bild 21. Auch auf einzelne Farbtupfer in einem ansonsten monochromen Bild (Bild 4) sollte man achten, insbesondere, wenn es sich um komplementäre Farben handelt. Beides gibt Bildern eine besondere Spannung. Schon wieder also gegensätzliche Gestaltungen in der Natur, die der Fotograf zu sehen üben sollte.
Wenig gesagt und geschrieben wird in der Regel über all diese von mir dargestellten Möglichkeiten, Motive zu sehen und zu erkennen. Dazu im Gegensatz stehen immer wieder ausgeführte Tipps, wie mit Schärfentiefe, Belichtung und auch Blitzeinsatz Bilder gestaltet werden können. Das geht von der Freistellung des Motivs durch geringe oder die Darstellung von Umweltbeziehungen durch umfangreiche Schärfentiefe über den gezielten Einsatz von Über- und Unterbelichtung bis zum Aufhellen oder Verdunkeln des Hintergrundes im Vergleich zum Hauptmotiv durch verschiedenen Einsatz von Blitzgeräten. Wenig Neues kann daher hier darüber geschrieben werden. Aber auch diese technischen Möglichkeiten kann man nur dann für besondere Fotos nutzen, wenn man beim Blick auf ein Motiv erkennt, welche Wirkungen die verschiedenen Techniken haben und wie sich durch deren spielerischen Einsatz neue Bilder gestalten lassen. So kann zum Beispiel nicht nur das Hauptmotiv in die Schärfeebene gerückt werden, sondern zusätzlich ein Element der Umgebung (Bild 4).
Nichts ist objektiv! Das haben meine Ausführungen hoffentlich gezeigt. Es gibt viele Arten, die Dinge zu sehen. Objektive verdienen diesen Namen aber auch aus anderen Gründen nicht, denn verschiedene Brennweiten ergeben spezifische Verzerrungen: Teleobjektive stauchen Entfernungen, Weitwinkelobjektive dehnen sie. Auch hierüber wird häufig geschrieben, so dass ich auf die sich daraus ergebenden Gestaltungsmöglichkeiten nicht weiter eingehen möchte.
Im Laufe der Zeit scheint sich meine Art, Motive zu finden, einer philosophischen Betrachtungsweise des Lebens überhaupt anzunähern. Es gibt die verschiedensten Möglichkeiten, die Dinge zu betrachten. Und jede Möglichkeit führt zu anderen Ergebnissen - zu einer anderen Wirklichkeit. Je mehr man dies erkennt und je häufiger man die verschiedenen Sichtweisen ausprobiert, desto mehr Motive ergeben sich. Dem Fotografen eröffnet sich so die Freiheit, nicht nur Abbilder zu erzeugen, sondern Neues entstehen zu lassen und ganz eigene, außergewöhnliche, überraschende und beeindruckende Abbilder der Wirklichkeit zu schaffen, ohne die Wirklichkeit selbst zu verändern.